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Geschlechtlichkeit von Bewusstsein, sexuelle Identität und Orientierung

Weiblichkeit und Männlichkeit sind nicht nur körperliche und beziehungsbestimmende Merkmale und Sachverhalte, es sind auch einflussreiche Pole und Referenzen im Bewusstsein. Ihre Betonung und das Verhältnis zu ihnen bestimmt mit, wie sich Selbsterleben und Selbstdefinition der Menschen im Großen und Kleinen gestalten. Auch wenn wir uns bewusst mit der Thematik befassen können, ist die Einstellung oder Positionierung in diesem Spektrum größtenteils unter- und unbewusst und daher kein direkt zugänglicher Ort. Die Beschäftigung mit diesen Themen auf den Ebenen von Meinungen, Vorlieben, Orientierung und Identität prägt unterschiedlich tiefgreifend.

 

Wenn wir stark auf der männlichen Seite beheimatet sind, geht dies mit Selbstständigkeit einher, oft auch verbunden mit Unabhängigkeit. Die Investition in Kontakt, Einfühlsamkeit und Kommunikation ist hier nicht zwangsläufig so stark. Das Hauptaugenmerk ist eher auf den Impulse-Gebenden, gestaltenden und aktiven Aspekt des Machens ausgerichtet. Dementsprechend erleben wir uns aktiv, kreativ, gestalterisch und von dieser kraftvollen Seite, die in ihrer wahren Entfaltung Zielgerichtetheit, Vision, Klarheit, Unterstützung und Entschlossenheit, Anpacken und Verwirklichung in die Welt bringt. In ihrer unerfüllten Weise tendiert sie stattdessen dazu, Druck zu machen, nicht in Kontakt zu gehen, sich selbst und andere nicht so viel zu fühlen, ein Machertum zu leben, das wenig Bezug mit dem Umfeld und dem was gerade so stattfindet, mit dem Herzen und dem Boden hat. Andere können sich davon leicht “auf den Schlips getreten” fühlen, weil sie überrannt oder „übermannt“ werden. Hier entsteht auch der absichtliche und der unabsichtlichen Täter, der direkt oder durch Unabhängigkeit verletzt.

 

Auf der anderen Seite liegt das Weibliche mit seinen Gaben der Empfänglichkeit und Gestaltung durch das In-Sich-aufnehmen, das Wirken-Lassen, Prozessieren, Empfangen, Zulassen und Entwickeln aus dem Kontakt mit dem Prozess des Lebens, der Kraft der inneren Verbundenheit mit den Ressourcen, Themen und Dynamiken heraus. Es ist eine grundlegend organische Form von Gestaltung, die davon lebt, dass sie den Prozess Schritt für Schritt vertrauensvoll und fürsorglich unterstützt. Somit ist es ein Zugang zu großem Mitgefühl, tiefer Intuition und Weisheit und hochschwingendstem spirituellen Erleben. In unerlösten Form hat das Weibliche Aspekte von ängstlichem Abwarten, Leidbetonung und Identifikation mit Schwäche in der sich das Opfer austoben kann. Die Passivität im Angriffsmodus durch Leiden und Abhängen in Bedürftigkeit und Schmerzkörper sind meistens unbewusst. 

 

Die beiden Pole und der Prozess der Positionierung zwischen ihnen bestimmen alles Sein und Wirken und verlangt immer wieder danach, sich in ein gutes Verhältnis zu entwickeln und in Frieden gebracht zu werden. So können sich die männliche und die weibliche Seite in uns näher kommen und das Selbstverständnis und den Respekt für den Wert der geschlechtlichen Identitäten des Bewusstseins und Verhaltens können wachsen und sich integrieren bis sich die Pole irgendwann auflösen. Dadurch kann sich der volle Facettenreichtum des Erlebens offenbaren und Inspiration und schöne Dinge, die zu unseren Geschenken an das Leben gehören, können auf neuen Ebenen beginnen, unsere Identität zu bereichern und Einzug in unsere Beziehungen und unsere Welt zu halten.

 

Wie Beziehung ist auch die Sexualität ein grundlegender Aspekt von Selbstverwirklichung, der stark vom Verständnis für die Dynamiken von männlich und weiblich profitiert. Die Balance der Pole verhilft auf diesem Gebiet dazu, frei mit Geben und Empfangen zu experimentieren und sie als Zugänge zu Wachstum und Referenzen für Stimmigkeit einzusetzen. So können Bedürfnisse besser erkannt, verstanden, befriedigt und geheilt werden. Die heteronormativen Dynamiken unserer Kultur und die Kompensationen, die sie auslösen sind stark prägend, was, wie alle Normierung, Selbstfindung, Selbstverwirklichung und Selbstausdruck beeinträchtigt. Sie erzeugen Stereotypen und Gegenreaktionen, halten diese am Laufen und suggerieren, dass es im Zusammenhang mit Selbstfindung, Intimität und Beziehung nicht viel zu besprechen und zu entwickeln gibt. Mehr an der Wahrheit vorbei geht eigentlich gar nicht.

 

Bis die eigene sexuelle Identität auf authentische Weise definiert ist und die eigenen sexuelle Orientierung im Gesamtbild verstanden wird, kann es dauern. Es braucht Mut, Konventionen zu hinterfragen, ihnen gegebenenfalls zu widersprechen und Sinn und Engagement für die Freiheit des eigenen Denkens, Fühlens und Handelns zu entwickeln. Die Fragen danach oder das Bewusstsein dafür, was bezüglich des Weiblichen und Männlichen in uns selbst ist, was davon im Inneren erweckt werden will und was in dem Zusammenhang im Außen zu suchen ist, sind elementar für unsere Lebensausrichtung und -gestaltung.

 

Der innere Prozess meiner eigenen Identitätsfindung und Orientierung hat sehr lange gedauert. Er hat trotz meiner bewussten Beschäftigung damit, intuitiv und jenseits meiner bewussten Meinungen stattgefunden sich weiterentwickelt. Die Meinung musste sich dann an seine Ergebnisse anpassen und in das dazugehörige Bewusstsein musste ich hineinwachsen. Auch die Frage, ob es für mich ein Lebenspartner oder eine Lebenspartnerin sein soll, habe ich selbst lange dazu benutzt, um mich anzugreifen, anstatt zu versuchen, mich zu verstehen. Dieses Verständnis für die geschlechtliche Ausprägung des Bewusstseins mit seiner männlichen und weiblichen Richtung wurde mir besonders mithilfe von Psychology of Vision viel verständlicher. Es war ein befreiendes Aha-Erlebnis als mir klar wurde, dass meine sexuelle Identität bisexuell sein kann und ist, obwohl sich meine sexuelle Orientierung seit langem in der homosexuellen Beziehung, die ich lebe, zeigt. Ich bin seit vielen Jahren glücklich mit einem wundervollen Mann verheiratet. Ich hatte mich vorher immer gefragt, warum ich mit der homosexuellen Identität nicht so viel anfangen konnte und dachte, ich sei nicht mutig genug, voll und ganz dazuzustehen. Mittlerweile bin ich in tiefes Verständnis und Liebe dafür hineingewachsen.

 

Einer der vielen Vorteile, diesen Prozess durchlaufen zu haben für die Beziehungs-Seminare und Beziehungs-Coachings, die ich gebe, ist, dass ich Geschichten und Konflikte leicht aus der Perspektive des gegengeschlechtlichen Gegenüber zu sehen verhelfen kann, um Verständnis zu vermitteln und Heilung von Beziehungsmustern zu unterstützen. Tatsächlich passiert es oft, dass sich in den ersten Begegnungen Teilnehmer mit Beziehungsthemen bei mir in Sicherheit fühlen, weil sie glauben, sich auf meine Urteile, dem gegenteiligen Geschlecht gegenüber, verlassen zu können. Männer, die sich darauf verlassen, dass ich mit ihnen d’accord gehe, wie nervig Frauen sind und Frauen, die sicher sind, einen Gesinnungsgenossen in mir zu haben, was für Ärsche Männer sind.

 

Die größte notwendige Investition in diesen Fällen bleibt immer wieder, Argumente für Verständnis und den oben erwähnten Frieden zwischen den beiden Seiten anzusteuern und zu unterstützen. Dieser Frieden zwischen der männlichen und weiblichen Seite, ist ein zentraler Fokus, auf den ich in mir, meinen Ausbildungen, Seminaren und Coachings hinwirke, um unsere Kultur und Welt liebevoll aus ihren Konventionen, Ängsten, Borniertheiten und Konflikten zu befreien. Habt Ihr Lust, diese Vision mit zu unterstützen? Wie ist es bei Euch um den oben erwähnten Frieden und das Verhältnis und Gleichgewicht bestellt? Ich freue mich über Eure Rückmeldungen dazu.

 

Euer Torsten Konrad

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Kommentare: 1
  • #1

    Helgard (Samstag, 28 November 2020 09:12)

    Hallo Torsten, danke für diesen Text!
    Eine Sache hat mich besonders angesprochen, nämlich als du von Normierung, Stereotypen und Gegenreaktionen geschrieben hast, die uns daran hindern, frei mit Geben und Empfangen zu experimentieren.
    Wie so oft bei deinen Texten fühle ich mich angesprochen und weiß doch machmal nicht, ob du das gleich meinst, wie ich herauslese.
    Ist ja im Grund auch nicht so wichtig, oder?
    Ich jedenfalls las etwas heraus, was mir hilft, meine Weigerung zu verstehen, die weibllichen Qualitäten in mir voll zuzulassen. Das Weiche, empfangende, gewährende, nährende. Nämlich: weil es als gesellschaftliches Ideal so hoch gehängt wird, wie Frauen sein sollen, dass ich mich weigere, so zu sein. So'n Blödsinn! So'n hoher Anspruch an mich!! - Dabei geht mir leider das Potential durch die Lappen, wo mir die weiblichen Qualitäten auch ein volleres (Er)leben eröffnen könnten. Ein weicheres Dasein.
    empfangende weiche Grüße
    von Helgard